Volkswirtschaft: Ökonomische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Volkswirtschaft: Ökonomische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
Volkswirtschaft: Ökonomische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
 
Am Beginn der klassischen Epoche des ökonomischen Denkens steht 1776 die Veröffentlichung des Werks »An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations« des Schotten Adam Smith. Der Beginn der Klassik fällt damit mit der Frühphase der industriellen Revolution (1769 Erfindung der Dampfmaschine) zusammen. Der Moralphilosoph Smith nahm eine grundlegende Neubewertung des Eigeninteresses vor. Wirtschaftliches Eigeninteresse steigert die Wohlfahrt aller. Während der Einzelne seine individuellen Ziele verfolgt, fördert er - geleitet durch die berühmte »unsichtbare Hand« des Marktes - das Allgemeinwohl. Aus dieser Sichtweise erfolgt die Ablehnung der merkantilistischen Forderung nach staatlichen Interventionen in das Wirtschaftsleben. Der Staat hat sich auf Aufgaben wie die Bereitstellung des Rechtssystems und die Schaffung von Gerechtigkeit zu beschränken (Liberalismus). Arbeitsteilung ist für Smith die Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum. Der »Wohlstand der Nationen« wird durch Arbeitsteilung, aber auch durch Kapitalakkumulation und dadurch weiter steigende Arbeitsproduktivität erhöht.
 
David Ricardo entwarf neben einer Theorie der funktionellen Einkommensverteilung der Produktion auf die Faktoren Arbeit, Kapital und Boden auch die Theorie der komparativen Kosten. Dieser Ansatz wurde für die Außenhandelstheorie wegweisend zur Erklärung der Vorteilhaftigkeit internationalen Handels. Jean-Baptiste Say ist der Begründer der Quantitätstheorie des Geldes, wonach die Geldmenge bei gegebener Umlaufgeschwindigkeit und gegebenem Transaktionsvolumen die Höhe des Preisniveaus bestimmt. Nach ihm ist außerdem das saysche Theorem benannt, wonach es ein Überangebot an Gütern langfristig nicht geben kann, weil »sich jedes Angebot seine Nachfrage selbst schafft«.
 
 
Unter all den seit Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgebrachten Theorien, die unter dem Begriff Sozialismus zusammengefasst werden, spielten die Gedanken von Karl Marx hinsichtlich ihrer Wirkungsgeschichte die bedeutendste Rolle. Für Marx wird in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Klasse der Proletarier durch die Klasse der Kapitalisten ausgebeutet. Mit fortschreitender Kapitalakkumulation sinkt die Profitrate des Kapitals. Die immer häufigeren Krisen führen schließlich zum Zusammenbruch des Kapitalismus. Marx fordert die Überwindung des Kapitalismus durch die proletarische Revolution. Mit der Abschaffung des Privateigentums erfolgt der Übergang zum Sozialismus, von welchem dann der Übergang in den Kommunismus stattfindet - eine Welt ohne Ausbeutung, ohne Grenzen und des dauerhaften Friedens. In allen Anwendungsversuchen ist diese Konzeption allerdings gescheitert.
 
 
Im Mittelpunkt der Neoklassik steht die marginalistische Revolution. Während die Klassik den Wert eines Gutes aus den Produktionskosten bestimmt (objektive Wertlehre), verweist die Neoklassik auf den subjektiv bestimmten Grenznutzen des Güterkonsums (subjektive Wertlehre). Der Grenznutzen ist der zusätzliche Nutzen, den die letzte Einheit eines Gutes für ein Individuum stiftet. Durch die Fundierung ökonomischen Verhaltens im individuellen Nutzenkalkül schaffen die Neoklassiker das analytische Instrumentarium der modernen Mikroökonomie. Der Franzose Léon Walras legte mit seinem allgemeinen Gleichgewichtsmodell die Grundlage für die stark mathematisch orientierte volkswirtschaftliche Theorie der Gegenwart.
 
 Keynesianismus und Monetarismus
 
Die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 schien zentrale Aussagen der Klassik wie das saysche Theorem zu widerlegen. Offensichtlich konnte es für längere Zeit zu Ungleichgewichten auf den Arbeits- und Gütermärkten mit der Folge hoher Arbeitslosigkeit kommen. Vor diesem Hintergrund publizierte John Maynard Keynes 1936 »The general theory of employment, interest and money«. Nicht jedes Angebot schafft sich selbst unbedingt eine wertmäßig entsprechende Nachfrage, wenn das Einkommen nämlich nicht in Investitionen oder Konsum, sondern in Ersparnis fließt. Daher kann die effektive Nachfrage die Höhe des Volkseinkommens beschränken. In solchen Situationen des Nachfragemangels empfiehlt Keynes eine antizyklische Fiskal- und Geldpolitik. Schuldenfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme können dabei ein Vielfaches des eigenen Volumens an zusätzlicher Nachfrage schaffen (»Multiplikatoreffekt«). Bereits im Monetarismus von Milton Friedman (* 1912) wurden die theoretischen Grundlagen zentraler keynesianischer Aussagen in Zweifel gezogen. Das Versagen des Keynesianismus in den 70er-Jahren und das Problem der Stagflation (gleichzeitig Stagnation und Inflation) war dann wesentlicher Auslöser für die Abkehr von Keynes in der praktischen Wirtschaftspolitik vieler Länder. In der in den 70er-Jahren entstehenden neuen klassischen Makroökonomie werden viele zentrale Aussagen der Klassik erneut aufgegriffen und mikroökonomisch fundiert.

Universal-Lexikon. 2012.

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